Vom Ende einer Geschichte

Grosse Unruhe
im neuen Buch von Julian Barnes

Eine Gezeitenwelle bewegt sich von einer Flussmündung aus flussaufwärts: ungewöhnlicher  Vorgang – um nicht zu sagen ungehörig. Die Bore (indisch: Flut) kommt in ihrer extremen Form nur an wenigen Orten auf der Welt vor. Menschen versammeln sich dort, um dem Spektakel beizuwohnen: wenn die Welle sich plötzlich aufbäumt und stromaufwärts rollt.
Welche Formen nimmt menschliches Verhalten an, wenn es einer widernatürlichen Richtung folgt?

Anthony Websters Wunden, die ihm seine Jugendliebe Veronica zugefügt hatte, sind nie ganz verheilt. Sie lagern in einem verdrängten Winkel seiner Seele und begleiten ihn, bis in seinen gemütlichen Lebensabend hinein. Durch die überraschende Ankunft eines Briefes öffnen sie sich erneut und er fühlt sich gezwungen, sie in neuem Licht zu betrachten. Schrittweiser Zusammenbruch, seiner über die Jahre aufgebauten Wirklichkeit, ist die Folge davon.

Man liest vom Ende einer Geschichte in einem Fluss durch. Am Schluss blättert man verstört zur ersten Seite zurück und versucht diese Geschichte noch einmal von ihrem Beginn an zu begreifen. Jagt ihr, wie ein Surfer seiner Welle hinterher und liest sie schon ein zweites Mal – gegen den Strom. Die Geschichte, in ihrer Traurigkeit und Schönheit, umfasst das ganze Leben eines Menschen. Der in seiner Jugend unmittelbar und rücksichtslos auf seine Umgebung reagiert hat – im Versuch mit dem Strom zu gehen. Doch der Blick zurück aus reiferen Jahren zeigt ihm, dass alles auch anders war.

Dieses Buch handelt von Verletzungen. Man taucht mit dem Protagonisten gleichzeitig in die eigene Vergangenheit ein. Erinnert sich an gefallene Sätze, die vor langer Zeit verstört haben und immer noch nachhallen – und durchschaut plötzlich den magischen Schutz, den das Nicht – vergessen – können bietet. Vor einer Wahrheit, die der eigenen Interpretation von Unrecht widersprechen könnte. Die zwingen würde, Verantwortung zu übernehmen. Um die Richtung eigenen Handelns rechtzeitig zu erkennen.

Julian Barnes poetische Kraft lässt einen nicht mehr los. Ein sehr gutes Buch.
(Für alle Menschen über vierzig) Ariela Sarbacher


Julian Barnes, Vom Ende einer Geschichte, 
www.kiwi-verlag.de

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